Parvus

Der Fall Heine

(16. April 1898)


Aus: Sächsische Arbeiter-Zeitung, Nr. 86 (16. April 1898).
Kopiert mit Dank von der Webseite Sozialistische Klassiker 2.0.
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Es gibt Fälle im Parteileben, wo das Reden Pflicht ist und das Schwiegen einer Pflichtverletzung gleicht. So ist es auch in diesem Fall. Wir haben erst neulich eine bezeichnende Erfahrung gemacht, nämlich auf dem Hamburger Parteitag anlässlich der Kanonenfrage, als Bebel erklärt hatte: „Ja, warum habt Ihr denn nicht Lärm geschlagen, als es noch Zeit war?“ Auch Herr Rechtsanwalt Heine selbst kann sich dann auf unser Schweigen als Billigung seines Vorgehens berufen. Denn der Mann tritt offen auf, er sagt seine Meinung rund heraus – das kann man ihm nicht nehmen, wie er sich ja überhaupt als Persönlichkeit bis jetzt korrekt benommen hat. Hätte er vor den Wahlen den überzeugten Sozialisten und Revolutionär geheuchelt und erst nach Erlangen des Mandats als Possibilist [1] sich entpuppt, das wäre etwas anderes. Aber Herr Rechtsanwalt Heine sagt uns ja aus eigenem Antrieb und von vornherein, was er will. Er konnte ja in seiner Kandidatenrede die strittigen Punkte umgehen und niemand wäre etwas aufgefallen, aber er hat sie extra hervorgehoben, vielleicht gerade in dem Gefühl, dass er ein Sozialdemokrat – in seiner eigenen Art ist.

Man wird sich kaum erinnern können, dass ähnliches schon in der Partei vorgekommen sein sollte. Enttäuschungen sind vorgekommen, indem man jemand für anders hielt als er war – aber hier kann es nicht einmal eine Selbsttäuschung geben. Der Versuch, eine Vogel-Strauß-Politik in Bezug auf diese unerquickliche Angelegenheit zu treiben, ist seitens der Fraktionsmajorität gemacht worden, aber Herr Rechtsanwalt Heine beeilte sich, jene Illusionen zu zerstören. Es wäre sehr begreiflich, wenn er gerade durch jenen Beschuss der Fraktion, der die Angelegenheit als ein „Missverständnis“ aus der Welt schaffen sich gedrängt sah, noch einmal seine Ansichten zu wiederholen, wie er es in den späteren zwei Berliner Versammlungen tat, um sich nicht später vorwerfen lassen zu müssen, er hätte seine wirklichen Ansichten irgendwie verschleiert oder verschleiern lassen. Also der Mann tritt offen an uns heran und erklärt: „So bin ich, das sind meine Ansichten, so verstehe ich die politischen Aufgaben der Zeit, so die Taktik – ist es euch recht, so stellt nun euere Organisation, euere Geldmittel, euere Zeitungen, euere Redner mir zur Verfügung, damit ich in den Reichstag gewählt werde, um jene von mir dargelegten Ansichten im Namen der Sozialdemokratie zu vertreten.“ Und wir sehen, dass der Mann kein Sozialdemokrat ist, sondern ein der Arbeiterklasse allerdings sehr wohlgesonnener Freisinniger, und da sollen wir nichtsdestoweniger uns vor dem Manne ehrfurchtsvoll verbeugen: „viel Ehre, Herr Rechtsanwalt! Wir sind zwar über diese Dinge anderer Meinung, aber es wird uns immerhin ein großes Vergnügen sein, wenn sie auf unserem Rücken in den Reichstag gelangen – bitte, steigen sie nur auf!“

Ein derartiger Fall ist, wir wiederholen es, uns aus der Parteigeschichte nicht bekannt. Sehr nahe liegend ist z. B. der Vergleich mit dem Namensvetter des Herrn Rechtsanwalt Heine, dem Hutmacher August Heine, dem gewesenen Abgeordneten für Aschersleben. Damals kam man aber erst nachträglich dahinter, wie die Dinge standen. Niemand dachte vor allem daran, dass August Heine gewählt werden wird, währenddem man hier dem Herrn Rechtsanwalt Heine ein fertiges Mandat übergibt. Und wie war es denn mit jenem Heine? Er hat zu Agitationszwecken gesagt, dass er „auf dem Boden der kaiserlichen Botschaft“, der bekannten Botschaft des „sozialen Königtums" stehe. So der Hutmacher Heine. Das ist aber ein reines Nichts gegenüber dem, was uns jetzt der Rechtsanwalt Heine bietet. Denn der Hutmacher Heine hat doch wenigstens mit keinem Wort davon gesprochen, dass er der Regierung für ihre angebliche Arbeiterfreundlichkeit Zugeständnisse machen will, während dem der Rechtsanwalt Heine offen eine Kompromisspolitik vorschlägt. Und was der leichtsinnige Hutmacher, um besser fortzukommen, im einzelnen Fall getan hat, das erhebt der gelehrte Herr Rechtsanwalt zum allgemeinen Grundsatz der Parteipolitik! Dafür musste der vorwitzige Hutmacher das Mandat, das er sich wider alles Erwarten erkämpft hatte, niederlegen, während dem Herrn Rechtsanwalt ein fertiges Mandat auf dem Präsentierteller dargeboten wird – wobei die Partei noch die Gefahr läuft, dass ihr das Ding aus den Händen fällt und zerbrochen wird!

Man kann nicht umhin, diese in die Augen springenden Gegensätze allgemeiner zu fassen. Der Schreiber dieser Zeilen tut es ungern, da er selbst zu den so genannten „Akademikern“ gehört, aber das soll ihn nicht verhindern, die Dinge so darzustellen, wie er sie sieht. Es unterliegt für uns keinem Zweifel, dass jemand, der nicht in der gesellschaftlichen Stellung des Rechtsanwalts Heine wäre, bei weitem nicht jene Duldsamkeit gefunden hätte, wie dieser. Man denke doch: wäre es denn möglich, dass ein gewöhnlicher Fabrikarbeiter als Reichstagskandidat aufgestellt würde, von dem man nicht einmal wüsste, ob er selbst bei der letzten Reichstagswahl sozialdemokratisch gestimmt habe, selbst wenn er sich in ein paar Versammlungen als noch so tüchtiger Redner gezeigt hätte? Wie aber erst, wenn er gleich bei seinem ersten Auftreten Ansichten entwickelte, die in allen Dingen der bisherigen Parteitaktik widersprechen? Das will uns ja gar nicht in den Kopf, dass eine solche Kandidatur möglich wäre. Und doch trifft das alles bei der Kandidatur Heine zu, nur mit dem Unterschied, dass es eben kein Handarbeiter, sondern ein Rechtsanwalt in angesehener Stellung ist.

Dass Leute von akademischer Bildung und Laufbahn der Partei sehr viel Nutzen bringen können, ist ja über jeden Zweifel erhaben. Die Arbeiterklasse zeigt deshalb nur ihren politischen Scharfblick, wenn sie diese Leute für sich zu gewinnen sucht, aber es gibt gewisse Grenzen. Wenn die Herren von der „Intelligenz“ sich frei und ohne Vorbehalt auf den Boden des proletarischen Klassenkampfes stellen, dann gut – aber nicht um des Haares Breite darf die Arbeiterklasse diesen Leuten zuliebe sich von ihrer Kampfesstellung ableiten lassen. Herr Rechtsanwalt Heine kommt aber nur zur Sozialdemokratie, um die Arbeiterklasse auf andere Wege hinüberzuleiten! Er kommt und er fordert gleich eine andere Taktik.

Wie stellt sich nunmehr die Reichstagsfraktion zu der Angelegenheit Heine? Den niemand wird doch behaupten wollen, dass der vor Wochen gefällte Beschluss der Fraktion sich auf jene Redeleistungen des Herrn Rechtsanwalt Heine, die soeben erst stattfanden, [erstreckt,] dass die Fraktion ein für allemal beschlossen habe: Was Herr Rechtsanwalt Heine tut ist gut getan, und wenn seine Äußerungen, die er in die Massen trägt, noch so sehr der traditionellen sozialdemokratischen Politik widersprechen, das soll von nun an „Sozialdemokratie“ sein?

Der Vorwärts, dem wir den Bericht über die letzten Reden des Herrn Rechtsanwalt Heine entnommen haben, findet – selbstverständlich – von sich aus kein Wort dazu zu sagen. Auch unsere Kritik unterschlägt das Blatt seinen Lesern. Wir sind daran gewöhnt. Ist doch der Vorwärts schon längst zu einem öffentlichen Übel geworden. Die Redaktion arbeitet systematisch auf eine sozialreformerische Richtung hin und lässt in ihren Spalten niemand zu Worte kommen, der es wagt, sich dagegen aufzulehnen. Stellte man sie darüber zur Rede, so hat sie stets die gleiche Antwort: ein Kübel voller abgestandener Redaktionsmätzchen und persönlichen Verunglimpfungen, wobei diese Tante von guten Manieren stets über den schlechten „Geschmack“ des vorwitzigen Fragestellers klagt – das ist obligat, das hat noch nie gefehlt – und zum Schluss die Erklärung, sie habe keinerlei Veranlassung – auf die Sache selbst einzugehen! Es ist wohl nicht immer die gleiche Persönlichkeit, welche jene geistreichen polemischen Notizen im Vorwärts schreibt, aber sicher hängt an der Wand die Schablone, die abwechselnd von allen gebraucht wird. Kann man da nicht ein Formular stereotypieren, beginnend mit: „Da es nicht das erste Mal ist“ und abschließend mit: „Wir haben also keinerlei Veranlassung“! Das alles wäre lächerlich, wenn es nicht so traurig wäre.

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Anmerkung

1. Im Streit zwischen der marxistischen Zeitung Égalité und dem opportunistischen Prolétaire in Frankreich Anfang der 1880er Jahre „wartete die Égalité gleichfalls mit einem Spitzwort auf und bezeichnete die Gegner als „Possibilisten“, weil der Prolétaire in seiner Polemik gesagt hatte: „Wir wollen unsere Bestrebungen in kleinen Dosen verabreichen, um derart ihre Annahme einem Jeden möglich zu machen“ (les rendre possibles).

Dies der Ursprung des Namens „Possibilisten“. (Clara Zetkin, Der Sozialismus in Frankreich seit der Pariser Kommune, Berlin 1889, erschienen unter dem Namen ihres verstorbenen Lebensgefährten Ossip Zetkin)


Zuletzt aktualisiert am 27. May 2024