Parvus

Der Opportunismus in der Praxis


3. Die Taktik Vollmar


Wie nur dem Kopf nicht die Hoffnung schwindet,
Der immerfort an schalem Zeuge klebt,
Mit gieriger Hand nach Schätzen gräbt,
Und froh ist, wenn er Regenwürmer findet.
Goethe, Faust.

Die geistige Zerfahrenheit des Opportunismus bedingt eine große Mannigfaltigkeit seiner Erscheinungsformen. Soweit er bis jetzt innerhalb der deutschen Sozialdemokratie zum Ausdruck kam, kann man immerhin vier Hauptlinien unterscheiden, um die sich die mehr oder weniger verwandten Geister gruppieren.

In erster Linie nenne ich das Vollmarsche Staatsmännertum. Ich verstehe darunter die gewiss nicht gering anzuschlagende Kunst der politischen bzw. parlamentarischen Kombinationen. Es gehört dazu vor allem ein Scharfblick für die augenblickliche Wechselwirkung der parlamentarischen Parteien und die Politik der Regierung. Ein derartiger staatsmännischer Blick ist gewiss jedem Politiker von Nutzen, auch dem sozialdemokratischen. Allein die Sozialdemokratie braucht mehr. Für sie als sozialrevolutionäre Partei ist die Entwicklung wichtiger als der augenblickliche Gleichgewichtszustand der politischen Parteien. Die Grundlage unseres ganzen Wirkens ist ja die ökonomische Entwicklung, welche die soziale Schichtung revolutioniert, das Kräfteverhältnis der politischen Parteien ändert, die Politik der Regierungen umgestaltet und uns zur Herrschaft bringen muss. Die Sozialdemokratie rechnet mit Faktoren, die der bürgerliche Staatsmann gar nicht kennt. Andererseits, wenn es auch gewiss töricht wäre, die Sonderinteressen der verschiedenen Schichten der Bourgeoisie, ihren Kampf untereinander und mit der Regierung zu ignorieren und alles in die unterschiedslose „reaktionäre Masse“ zu werfen, so haben wir es doch nichtsdestoweniger noch jedes Mal, wenn das Proletariat einen großen politischen Vorstoß wagte, wahrnehmen müssen, dass die Bourgeoisie und die Regierung sich im Kampfe gegen die Arbeiterklasse zusammenfanden. Der universelle Charakter des proletarischen Klassenkampfes, der sich gegen die ganze Gesellschaftsordnung samt ihrer Staatsform wendet, bedingt es selbst, dass auch auf der Gegenseite, trotz aller Reibereien, schließlich das gemeinsame Klasseninteresse der Besitzenden zu Durchbruch kommt. Der Verrat der bürgerlichen Demokratie am Proletariat ist kein Zufall, er ist Gesetz. Erst gibt sich dieses demokratische Bürgertum, unter Verkennung der Klassengegensätze, der Illusion hin, die Arbeiterinteressen ebenso gut vertreten zu können wie jene „aller anderen Volksschichten“, und als dann der Klassengegensatz – für die bürgerlichen Ideologen immer spontan, plötzlich, unerwartet – zum Durchbruch kommt, bleibt ihnen nichts übrig, als entweder ihrer eigenen Klasse untreu zu werden, oder die Interessen des Proletariats preiszugeben.

Der Staatsmann innerhalb der Sozialdemokratie neigt nun vor Allem leicht zu einer Überschätzung der Bedeutung der augenblicklichen parlamentarischen Konstellation und einer Außerachtlassung der großen Entwicklungsgesetze. Er legt viel zu viel Gewicht auf die Intentionen der Regierung die Ansichten und Versprechungen der Parteien. Er überschätzt überhaupt die Bedeutung der Regierung (nicht zu verwechseln mit der Regierungsgewalt) und der parlamentarischen Mehrheit und übersieht gern, dass die Staatsgewalt, also Regierung, Parlament und die gesamte politische, inklusive militärische Organisation des Landes, sich im Besitz der herrschenden Kapitalistenklasse befindet. Er legt viel zu viel Gewicht auf die öffentliche Meinung, welche auf das Parlament und die Regierung einen Einfluss übt, – viel zu wenig auf jene aus der sozialen Gliederung sich ergebenden Interessen, welche die öffentliche Meinung schnell und gründlich umstimmen, wenn das seichte Gewässer der Tagespolitik plötzlich durch die großen sozialen Unterströmungen in wilden Aufruhr versetzt wird. Und so muss denn unser Staatsmann immer wieder die Erfahrung machen, dass seine noch so fein gesponnenen politischen Kombinationen durch ein von oben unerwartetes Aufeinanderplatzen der Klassengegensätze über den Haufen geworfen werden. Betrübt, dann erbittert, sucht er den Grund seiner Misserfolge in der wenig überlegten Taktik Anderer, in dem Ungestüm, mit dem die Massen vordringen. Er versucht also, die sozialrevolutionäre Bewegung einzudämmen, sie in ein ruhigeres Fahrwasser zu geleiten. Er predigt Besonnenheit, Mäßigung. Er glaubt, dadurch die Entwicklung zu sichern, das Proletariat in kleinen Etappen, von Erfolg zu Erfolg zum Ziele zu führen. Wenn man nur sich nicht überstürzt, nur den gegebenen Verhältnissen Rechnung trägt, sich „erreichbare Ziel“ stellt. Er ermahnt zur Selbstbeschränkung, fordert Entsagung. Und er übt vor Allem selbst Entsagung. In seiner Sehnsucht nach „positiven“ Leistungen, geängstigt durch Misserfolge, reduziert er immer mehr seine Forderungen, um sich der augenblicklichen politischen Konstellation, der momentanen parlamentarischen Mehrheit anzupassen Immer mehr „Selbstbeschränkung“ legt er dem Proletariat auf, immer mehr Entgegenkommen zeigt er den bürgerlichen Parteien, und damit zugleich arbeitet er sich in eine immer größere Wut hinein gegenüber den revolutionären Stürmern, die ihn in seinem löblichen Tun stören.

Wird er durch theoretische Gründe bedrängt, so wendet er sich gegen die Theorie überhaupt. Er will nicht Sklave des Prinzips, der wissenschaftlichen Erkenntnis sein. Ändert sich nicht die Wissenschaft auch? Also gebrauchen wir die Wissenschaft, die uns behagt, und finden wir augenblicklich keine passende auf dem Markte, so warten wir ab, bis eine kommt.

Nach seiner Auffassung räumt man wissenschaftliche Argumente nicht bloß dadurch aus dem Wege, dass man sie widerlegt, sondern man kann sie auch umgehen, überspringen, kurz, sie ignorieren, sich durch sie nicht imponieren lassen. Was hat’s für unseren Staatsmann zu bedeuten, wenn er einer falschen Begründung, einer Unkenntnis der Tatsachen, eines Widerspruchs, einer Inkonsequenz überführt wird? Nichts unter Menschen dauert ewig, alles gerät in Vergessenheit, und die Öffentlichkeit hat ein kurzes Gedächtnis. Noch mehr, die Öffentlichkeit hat stets Respekt vor Jemand, der sich nicht imponieren lässt. Zum Beispiel alle Welt mag einsehen dass in einem bestimmten Falle unser weiser Staatsmann von einem bösen Kritiker, der vielleicht gar ein Gott weiß woher gelaufener Jemand ist, der nicht einmal Sporen und Epauletten trägt, sehr übel zugerichtet worden ist, aber wenn er dabei ein klares Auge und eine ruhige Stirn behält, dann glaubt alle Welt, der Staatsmann müsse mehr wissen als die Übrigen alle, was ihm ein Überlegenheitsgefühl verschafft, da er in einem Falle, wo jeder andere sich geschunden fühlen müsste, keine Miene verzieht. Wenn das sich öfters wiederholt, dann braucht der weise Staatsmann nur gelegentlich einige weise Aussprüche in die Menge zu lancieren, wie zum Beispiel, dass jedes Ding seine Zeit habe, dass die hohlen Schwätzer doch nichts ausrichten, dass er keinen Geschmack finde an bodenlosen Diskussionen, dass die Entwicklung der Tatsachen schon die Ideen beeinflussen werde u. a. m. und bald wird es auf allen Marktplätzen heißen: „der weise Staatsmann weiß etwas, was alle Welt nicht weiß, aber er schweigt, weil er weise die Gelegenheit zum Sprechen abwarten will, aber wenn diese erst gekommen sein wird, dann – ja dann!“ ... Viele wiederum staunen den Kaltmut des Staatsmannes an, ohne sich über das Wieso Gedanken zu machen. Ihnen ist es einfach ein blaues Wunder, wie so Manches in der Welt: Ali, der unverwundbare Araber, dem man eine Stricknadel durch die blutlosen Wangen ziehen kann, der Mann mit dem Steinkopf, an dessen Schädel man den härtesten Granit in Splitter schlagen kann u. a. m.

Die Charakteristik einer Taktik kann niemals identisch sein mit der Charakteristik einer Persönlichkeit. Die Dinge haben mehr Konsequenz als die Menschen. Ich bitte die Leser, dieses Korrektiv im Auge zu behalten. Andererseits nehme ich das Recht in Anspruch, aus jeder politischen Handlung, aus jeder in den Meinungsstreitigkeiten innerhalb der Partei öffentlich kundgegebenen Stellungnahme ungeschminkt die äußersten Konsequenzen zu ziehen.

Der politische Grundfehler, den Vollmar schon in seinen Eldorado-Reden 1891 begangen hatte, war, dass er auf die veränderte Taktik der Regierung gegenüber der Sozialdemokratie ein viel zu großes Gewicht legte. Dass er der Regierung viel mehr guten Willen zutraute, als sie hatte, dass er den kaleidoskopartigen Farbenwechsel des neuen Kurses, die großen und kleinen Umsturzvorlagen nicht voraussah [2], das war sogar noch das Geringste; die Hauptsache war, dass er eine Änderung im Verhalten der Regierung für wichtig genug hielt, um daraufhin die gesamte Parteitaktik einer Revision zu unterwerfen. Das läuft darauf hinaus: ist die Regierung reaktionär, dann sind wir revolutionär, ist sie passabel, sind wir traktabel. Aber das Proletariat ist nicht deshalb revolutionär, weil es politisch verfolgt wird, sondern umgekehrt. Vollmar vergaß, dass die Regierung des kapitalistischen Staates, was das Proletariat anbetrifft, selbst beim besten Willen nie etwas Anderes als ein Werkzeug in den Händen der Kapitalistenklasse sein kann. Dass die Sozialdemokratie revolutionär ist, hängt weder von der Regierung noch von uns ab, es ist das Ergebnis des Klassenkampfes innerhalb der kapitalistischen Gesellschaft. Die deutsche Sozialdemokratie war mit Recht stolz darauf, dass sie sich durch das Sozialistengesetz weder nach links noch nach rechts habe drängen lassen – weshalb sollte nun der Fall des Sozialistengesetzes eine Änderung der Parteitaktik bewirken? Wiederum springt ein eigentümlicher Zusammenhang in die Augen: Gerade Diejenigen, welche bei der Einführung des Sozialistengesetzes die Partei zu Extremen nach links haben treiben wollen, trieben sie nach dem Sturze des Sozialistengesetzes zu Extremen nach rechts. Der Fehler lag in beiden Fällen in einer Überschätzung des Einflusses der Regierungspolitik auf den proletarischen Klassenkampf. Die sozialrevolutionäre Bewegung bahnt sich selbst einen Weg, ungeachtet des Hasses oder des Wohlwollens der Regierung.

Vollmar glaubte also, dass mit dem Falle des Sozialistengesetzes eine Ära politischer und sozialreformerischer Zugeständnisse seitens der Regierung begonnen habe. Er beeilte sich deshalb, unsere nächsten Forderungen auf gesetzgeberischem Gebiet zu präzisieren, und riet der Partei, der Regierung ein politisches Entgegenkommen zu zeigen, um ihr die Arbeit zu erleichtern, Man kann nun den Wert der deutschen sozialpolitischen Gesetzgebung der letzten zehn Jahre verschieden hoch einschätzen, darüber aber gibt es keinen Zweifel, dass die neunziger Jahre in dieser Beziehung gar keinen Vergleich mit den achtziger Jahren aushalten können. Solche kardinalen Maßregeln wie die Durchführung der Fabrikgesetzgebung und der Arbeiterversicherung sind nicht mehr vorgenommen worden. Der sozialpolitische Eifer der Regierung ist also, gerade umgekehrt zu den Vollmarschen Erwartungen, nicht gestiegen, sondern gesunken, bis schließlich offen und öffentlich der Grundsatz proklamiert worden ist, in der Sozialpolitik eine Ruhepause eintreten zu lassen. Wie das mit der Frage, ob sozialrevolutionäre oder opportunistische Taktik, zusammenhängt, wird an anderer Stelle erörtert werden, vorläufig konstatiere ich, dass die intensivste sozialpolitische Tätigkeit des Staats zur Zeit der intensivsten sozialrevolutionären Agitation stattfand.

Sein staatsmännischer Blick hat also Vollmar gründlich getäuscht. Sehen wir zu, wie das auf die weitere Entwicklung seiner Taktik wirkte. Unter den fünf Forderungen die Vollmar 1891 aufgestellt hatte, waren besonders zwei bemerkenswert: die Erringung eines gesetzlichen Normalarbeitstages und die „Beseitigung der Lebensmittelzölle“. Das waren für ihn damals Sachen, die sofort zu verwirklichen waren und deshalb die volle Aufmerksamkeit des praktischen Politikers erfordern. Gewiss musste überhaupt auf einen weiteren Ausbau der Arbeiterschutzgesetzgebung hingearbeitet werden, jedoch: „vor Allem ist die ganze Kraft auf die Erlangung eines gesetzlichen Arbeitstags – dieses Kern- und Angelpunktes aller Arbeiterschutzvorrichtungen – zu richten.“ In Bezug auf die Beseitigung der Lebensmittelzölle äußerte er: „Ich will nur sagen, dass unser Kampf gegen das System der künstlichen Lebensmittelverteuerung niemals erlahmen darf.“ Man wird aber in der Tätigkeit Vollmars seit 1891 vergebens nach den Spuren einer Konzentration der „ganzen Kraft“ auf die Erlangung des Normalarbeitstages suchen. Im Gegenteil, je mehr sein staatsmännischer Blick ihm zeigte, dass die Regierung und die Parteien vorläufig noch eine derartige Maßregel für inopportun halten, desto mehr trat für ihn die Agitation für den Normalarbeitstag aus dem Vordergrund in den Hintergrund gegenüber jenen kleinen und kleinsten sozialpolitischen Gesetzen, denen er 1891 eine untergeordnete Bedeutung beimaß.

Und auch in seinem Kampfe für die Beseitigung der Lebensmittelzölle, der „niemals erlahmen“ sollte, ließ Vollmar eine lange Pause eintreten. Erst die jüngsten Ereignisse haben ihn wieder aufgerüttelt, und da forderte er zum Kampfe auf – gegen die „neuen Zollsätze“, also nicht mehr für die Beseitigung der Lebensmittelzölle, sondern gegen ihre Erhöhung. Bis dahin aber ignorierte er persönlich die Gelegenheiten zur Agitation gegen die Lebensmittelzölle, die ihm der Bauernbund sehr hartnäckig darbot. Er schwieg, als der Bauernbund Erhöhung der Getreidezölle beantragte, er schwieg, denn er fasste bereits den staatsmännischen Plan, die Bauernbündler ebenso durch Entgegenkommen zur Sozialdemokratie zu bekehren, wie er durch Entgegenkommen die Regierung sozialreformerisch machen wollte. Das war nur der Teil eines Ganzen, der Bauernagitation, deren Herrlichkeiten ich ebenfalls an anderer Stelle einer eingehenden liebevollen Darstellung unterziehen werde. Ihr leitender Gesichtspunkt war: Da das deutsche Bauerntum, wie es augenblicklich ist für das sozialistische Programm des Proletariats nicht zu haben wäre, so wollen wir ein sozialistisches Programm im Sinne dieses Bauerntums zusammenschustern. Hier führt bereits das Staatsmännertum, das mit einem zunächst durchaus unverbindlichen Entgegenkommen gegenüber der Regierung – „ohne das Endziel aus den Augen zu verlieren“ – begonnen hatte, zu prinzipiellen Konzessionen. Da nun Vollmar den Bauernbund nach rechts, gegenüber dem Zentrum, deckte, von links schaute, so konnte er gar nicht besser die Geschäfte dieser politischen Zwitterbildung fördern. Die Quittung für diese Tätigkeit stellten die Reichstagswahlen 1898 aus, die in den ländlichen Wahlkreisen Bayerns einen erheblichen Zuwachs der bündlerischen und eine absolute Verminderung der sozialdemokratischen Stimmen zum Ausdruck brachte. Abermals ging eine staatsmännische Aktion an den Klassengegensätzen in die Scherben.

Mit dem gleichen Erfolg endete auch die staatsmännische Kombination Vollmars in der bayerischen Wahlrechtsfrage. Das bayerische Wahlsystem ist solcher Art, dass, wenn der erste Wahlgang [in einzelnen Wahlkreisen] unentschieden bleibt, Wahlbündnisse unerlässlich sind, um ein Resultat zu erzielen. Bisher gingen nun in solchen Fällen stets Zentrum und Nationalliberale zusammen, um die Sozialdemokratie zu übervorteilen. Da aber wiederholt bei der Teilung der Beute die Nationalliberalen sich als unredliche Kompagnons erwiesen haben, so wandte sich bei den letzten Wahlen das erboste Zentrum an die Sozialdemokratie. In Folge dessen wurden die Liberalen jämmerlich zusammengehauen, sie bekamen also die Unzuträglichkeiten des Wahlsystems am eigenen Leibe zu spüren. Aber auch des Zentrums Freude war nicht ungetrübt: denn durch sein Zusammengehen mit der Sozialdemokratie hat es selbst in das dichte Gewebe der Lügen und Verleumdungen, mit dem es die Massen von der Sozialdemokratie fernzuhalten suchte, ein gewaltiges Loch gerissen, und das musste ihm besonders in den katholischen Arbeitervereinen recht unangenehm werden. Andererseits wurden ihm seitens der katholischen Bourgeoisie und des katholischen Muckertums bittere Vorwürfe gemacht. Zur Rechtfertigung berief es sich auf das Wahlsystem. So kam es, dass nach dem Wahlen sich alle Parteien in erbitterten Klagen über das bestehende Wahlrecht ergingen. Für uns entstand daraus vor Allem die Aufgabe, die günstige Situation agitatorisch auszunützen. Da alle Welt von Wahlrechtsänderung sprach, mussten wir durch Versammlungen, Flugblätter etc. eine Massenbewegung zu Gunsten eines demokratischen Wahlrechtes ins Werk setzen. Im Landtag mussten wir möglichst weitgehende Anträge stellen, um die Sonderinteressen der einzelnen Parteien zum Durchbruch zu bringen. Wir mussten auf eine schnelle Erledigung der Wahlrechtsfrage drängen, mit allen uns zugänglichen politischen Mitteln, wenn nötig durch Obstruktion, die Regierung und die Parteien dazu zwingen. Und würden wir auch unsere Gesamtforderung kaum durchgesetzt haben, so könnten wir doch unter diesen Verhältnissen am ehesten darauf rechnen, dass die herrschenden Parteien wenigstens etwas gewähren würde, um unserer Agitation die Spitze abzubrechen, und auf jeden Fall hätten wir den Effekt der Agitation für uns.

Anders aber dachte Vollmar. In seinem Kopfe bildete sich sofort eine staatsmännische Kombination. Er begann also die Kampagne damit, dass er im Landtag eine feierliche Rede hielt im Tone des wohlwollenden Mahners. Er zeigte den Parteien, wie töricht sie bis jetzt gehandelt haben, indem sie sich der sozialdemokratischen Forderung der Wahlrechtsänderung verschlossen haben. Und dass sie überhaupt die Soziademokratie verkannt haben: „So müssen Sie sich denn, meine Herren, einfach bemühen, uns zu verstehen.“ Er selbst gab sich alle Mühe, sich auf den Standpunkt der bürgerlichen Parteien zu stellen. Er bewies ihnen, dass sie aus Rücksicht auf ihre eigenen Interessen und aus Rücksicht auf die sozialdemokratische Agitation das Wahlrecht ändern müssen. Er drohte mit dieser Agitation. Aber er drohte nur. Vor allem wollte er vielmehr durch Unterlassen der Agitation das Entgegenkommen, den guten Willen der Sozialdemokratie offenbaren.

„Nun komme ich auch noch mit einigen Ausführungen zum eigentlichen Gegenstand, nämlich zur Wahlreform. Ich werde, wie gesagt, nicht viel darüber sprechen und zwar deswegen, weil ja die Sache nun endlich einmal in Marsch gebracht worden ist, durch uns in allererster Linie. Der Antrag soll an einen Ausschuss kommen und wir werden dort über die Sache ja sprechen können. Uns Sozialdemokraten ist es hier, wie bei allen Gelegenheiten, der Auffassung von Ihnen allerdings zuwiderlaufend, durchaus nicht lediglich um die Agitation zu tun ... Wir wollen deswegen Rekriminationen vermeiden in Bezug auf die bisherige Stellung der Parteien zu unseren Anträgen und wir wollen auch auf die Einzelheiten nicht eingehen, was viel besser im Ausschuss geschehen wird.“

Die Redner aller Parteien haben sich für die Wahlrechtsänderung ausgesprochen, nun konnte es also nicht mehr fehlen. Es sei eine vollkommene Unmöglichkeit, erklärte Vollmar, dass die Sache noch einmal auf die lange Bank geschoben werden sollte.

So glaubte denn Vollmar, in der Wahlrechtsfrage alle Parteien unter eine Kappe gebracht zu haben. Etwas Entgegenkommen seitens der bürgerlichen Parteien, Nachsicht von unserer Seite – so wir das Tränklein zusammengebraut. Darum war ihm der Ausschuss so lieb, wo in aller Stille „positive Arbeit“ geleistet werden konnte. Kurz, an Stelle der Agitation setzte er die Konziliation. Aber das war es gerade, was die Reaktionäre brauchten. Sie fürchteten die Massenagitation, sie fürchteten die Diskussion in der Öffentlichkeit und sie waren über alle Maßen froh, als die Sozialdemokratie sich durch einige Redensarten hat pazifieren lassen und im Moment des brennendsten öffentlichen Interessen auf die Agitation verzichtet hat. Im Ausschuss nahm man sich reichlich Zeit. Innerhalb der allgemeinen Stille, die von der Sozialdemokratie sehr wenig getrübt wurde, verlor sich das akute Interesse der Öffentlichkeit. Die Sache geriet in Vergessenheit. Bei der „positiven“ Arbeit der Verfassung des Gesetzentwurfes kamen die Sonderinteressen der bürgerlichen Parteien und die sie einigende Feindschaft gegen die Sozialdemokratie immer klarer zum Ausdruck, und bald unterlag es keinem Zweifel mehr, dass die Sache auf die lange, auf die allerlängste Bank geschoben wird! So endete diese staatsmännische Aktion. Vollmar ist um eine Erfahrung reicher. Woraus er vermutlich, wie in den bisherigen Fällen, nur die Schussfolgerung zieht, dass er immer noch nicht schlau, nicht staatsmännisch genug war.

Zuguterletzt gab der Fall Millerand Vollmar eine äußerst günstige Gelegenheit, selbst die Konsequenzen seines Standpunktes zu ziehen. Gedeckt durch die Annahme, die Sache gehe „praktisch“ Deutschland nichts an, durfte er sich den Luxus gestatten, seinen Gedankengang sich frei entwickeln zu lassen. Als in Erfurt Liebknecht den „Regierungssozialismus“ als Konsequenz des Vollmarschen Standpunktes hinstellte, wandte sich dieser entrüstet dagegen. Seitdem hat er, vom Misserfolg zu Misserfolg schreitend, gelernt, bescheiden zu wollen und weise zu wählen. Die immer weiter gehende Reduktion seiner nächsten gesetzgeberischen Forderungen setzte ihn vor Allem in den Stand, die Millerandschen Klein- und Scheinreformen hochzuschätzen. Andererseits je geringfügiger die Gesetzgebung ist, um die es sich handelt, desto mehr Bedeutung gewinnt die Regierung in seinen Augen an Größe.

So kam Vollmar dazu, an einem sozialistischen Ministerialismus Geschmack zu gewinnen. Und im Grunde genommen, wer „dem guten Willen„ der Regierung „die offene Hand„ reichen will, wie kann er denn Nein sagen, wen diese Regierung ihn auffordert: „Komm‘ und sein mein guter Genius“? Nun gebrauchen ja Vollmar und die Anderen, die in Deutschland den Millerandismus verteidigen, stets die Kautel, für Deutschland komme der Fall nicht in Betracht, in Deutschland seien die Verhältnisse anders, die politische Form sei weniger freiheitlich, die Regierung weniger demokratisch etc. Schält man die Umhüllungen weg, so bleibt folgender nackte Grund: weil die deutsche Regierung einen Sozialisten zum Minister nicht haben will. Wollte sie es, dann wäre ja gerade das der Beweis des Liberalismus, der Demokratie, etc. etc. Also, die Regierung braucht nur zu wollen!

Die deutschen Ministerialisten unterscheiden sich von den französischen nur dadurch, dass, währenddem die letzteren einem Regierungsangebot Folge leisteten, die ersteren noch lange bevor die Regierung auch nur im Entferntesten daran denkt, an Sozialisten Ministerportefeuilles zu verteilen, sich zur Disposition der Regierung halten. Welche staatsmännische Voraussicht!

Ich will durchaus nicht behaupten, dass Vollmar selbst ein Ministerportefeuille annehmen würde. Er hat eine zu große politische Vergangenheit hinter sich, um die äußersten Konsequenzen seines jetzigen Standpunktes persönlich in die Praxis umsetzen zu können. Aber der Punkt, an den der eine Politiker durch die Entwicklung eines Menschenalters gelangt ist, bildet für den Zuletztgekommenen den Ausgangspunkt seines Wirkens, und dieser geht dann in seinen Konsequenzen viel weiter. Der Opportunismus ist ja die Inkonsequenz. Und dem Opportunisten, der uns damit vertröstet, dass er selbst in diesem oder jenem praktischen Falle nicht so weit geht, erklären wir: „Wir können nicht auf deine Inkonsequenz bauen, sondern wir müssen mit der Konsequenz rechnen welche andere aus deinem Standpunkt ziehen!“

Das Staatsmännertum innerhalb der Sozialdemokratie führt in Konsequenz seines eigenen Standpunktes durch eine Reihe unmerklicher Übergänge dazu, dass der Eroberung der politischen Macht durch das Proletariat die Erschleichung eines Ministerportefeuilles durch einen politischen Kautschukmann untergeschoben wird dem sozialrevolutionären Entwicklungsprozess die parlamentarische und womöglich die Hofintrige!

* * *

Anmerkung

2. Neuer Kurs: Regierungspolitik nach der Aufhebung des Sozialistengesetzes und der Entlassung Bismarcks.

Umsturzvorlagen: Im Reichstag 1895 eingebrachtes Ausnahmegesetz gegen die Arbeiterbewegung, das keine Mehrheit fand, im Weiteren Sinne auch verwandte Gesetzentwürfe wie die „Zuchthausvorlage„ von 1899 gegen effektive Streikposten etc.


Zuletzt aktualisiert am 29. May 2024